Kunst trifft Physik: Der kleinste Kandinsky
Intervention in der Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart in Kooperation mit der Universität Stuttgart
An der Universität Stuttgart hat Dr. Mario Hentschel vom 4. Physikalischen Institut ein Verfahren entwickelt, das die natürliche Erscheinung von Gemälden über viele Jahrzehnte auf kleinster Fläche zu konservieren vermag. Im Zentrum seines Experiments stand das 1910 von Wassily Kandinsky gemalte, farbenprächtige Landschaftsbild »Improvisation 9«. Der kleinste Kandinsky der Welt ist aktuell unter dem Mikroskop neben dem Originalgemälde in der Sammlung zu sehen.
1910, vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs, malte der russische Künstler Wassily Kandinsky das Bild »Improvisation 9«. Es hängt heute in der Staatsgalerie in Stuttgart. Seine ungeheure Farbenvielfalt beeindruckt ebenso wie seine ästhetische Schönheit. Kandinsky war zum damaligen Zeitpunkt auf einem Höhepunkt seiner künstlerischen Entwicklung angelangt. Seine Malerei war zum Spiegel geworden, sowohl dessen, das im außen gesehen und erlebt werden konnte, als auch jenes anderen das sich jenseits des Konkreten im Bereich der inneren Erfahrung und Befindlichkeit befand. Der Umgang mit der Farbe, deren aufsehenerregende Befreiung vom Gegenstand durch die Impressionisten er bei der Begegnung mit der Serie der »Heuhaufen« von Claude Monet im Jahr 1986 begriffen hatte, spielte im Zusammenhang seines Ringens um eine auch kunsttheoretisch und geistig reflektierte Kunst eine Schlüsselrolle. Indem Kandinsky die Formen des Gesehenen nur noch zeichenhaft reduziert wiedergab, erhielten die Farben Fläche und Raum. Das Bild wandelte sich zur Komposition, und die Erscheinung des Dargestellten in leuchtenden Farben war voller Rhythmus und Klang. Kandinsky hatte so das von den Impressionisten und danach den Fauves um Matisse verwirklichte Potenzial der Farbe, mit ihr malerisch das Tor zur Abstraktion aufstoßen zu können, signifikant zur Entfaltung gebracht. Kandinskys kunsttheoretische Beschäftigung mit dem Bereich jenseits des im Außen zu Sehenden, den er im Geistigen angesiedelt sah, ließen ihn daraufhin eine ganze Reihe an weiteren Werken unter dem Titel »Improvisation« malen.
Sichtbar für das Auge wird Licht als ein Strahl oder als Streuung von Punkten. Jeder Punkt einer Welle erzeugt eine neue Welle. Gemeinsam schaffen sie so Lichtfelder. Trifft das Licht als Welle auf Materie, kann es reflektieren, brechen, verlangsamen oder gar absorbiert werden. Die unterschiedlichen Farben entstehen jeweils durch die Ereignisse von Reflexion oder Absorption, nachdem das Licht auf Materie gestoßen ist. So entstehen sogenannte Absorptionsfarben, wenn der Großteil des einfallenden weißen Lichts »verschluckt« (absorbiert) und nur Licht aus einem kleinen spektralen Bereich reflektiert beziehungsweise zurückgestreut wird– eine Farbe entsteht. Der Extremfall dieser »Farbe« entsteht bei vollständiger Absorption des Lichtes über den ganzen sichtbaren Spektralbereich: Die Oberfläche erscheint schwarz. Bei sogenannten Emissionsfarben leuchtet das Material selbst und sendet Licht in einem begrenzten Wellenlängenbereich aus. Ein geläufiges Beispiel ist das gelbliche Licht der älteren Straßenbeleuchtung, der sogenannten Natriumdampf-Hochdrucklampen bei denen gasförmiges Natrium gelbes Licht aussendet.
Es gibt in der Physik auch eine spannende Mischform: Materialien, die eine Ordnung auf der Mikro- oder Nanoskala haben, können einfallendes Licht resonant streuen und zurückwerfen. Die Beugung von Gitterstrukturen, wie beispielsweise von den regelmäßigen Rillen einer CD, sind ein gutes Beispiel. Hier werden sowohl gewisse Anteile des Lichtes verschluckt, einige Anteile jedoch auch effizient zurückgeworfen – sehr intensive und leuchtstarke Farben sind die Folge, das Material scheint von sich zu leuchten.
Pigmente als Träger von Farben, seit Jahrhunderten und Jahrtausenden gewonnen aus farbigen Erden oder gemahlenen Materialien, können unter Lichteinfall jedoch ausbleichen. An der Universität Stuttgart ist es in diesem Zusammenhang Dr. Mario Hentschel vom 4. Physikalischen Institut gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, das die natürliche Erscheinung von Gemälden über viele Jahrzehnte auf kleinster Fläche zu konservieren vermag. Hierfür brachte er das Bild »Improvisation 9« mit seiner Farbenvielfalt auf einer Fläche von nur 180 x 180µm² (Quadratmikrometer) unter – kaum größer als die Spitze einer Nadel. Dabei grub er in einem Siliziumwafer - in der Mikroelektronik so genannte kreisrunde oder quadratische Scheiben von einem Millimeter Dicke - mithilfe sogenannter Gold-Ionenstrahl-Lithographie winzige Löcher ein, die in Bezug auf ihre Tiefe und Durchmesser variierten. Der Gold-Ionenstrahl wirkte wie Sand aus einer Sandstrahlpistole, der das Silizium an der Stelle seines Auftreffens schlagartig verdampft und die Nanolöcher gräbt. Die Durchmesser und Tiefen der Löcher sind nur wenige Hundert Nanometer groß, vergleichbar mit einem Hunderstel einer Haaresbreite oder vergleichbar mit den kleinsten Bakterien. Unter dem Mikroskop konnte Hentschel dann feststellen, dass diese Nanolöcher kräftige und natürliche Farben zeigten. Diese hingen in dem Moment nicht mehr von den Pigmenten und dem Einfall von Licht ab, sondern ausschließlich von der Lochgröße und der Lochform. Als entscheidend erwies sich dabei das Material. Das Silizium ist sehr hart. Es weist einen hohen Brechungsindex auf und verändert im Gegensatz zu Pigmenten von daher seine Beschaffenheit nicht. Einzelne Löcher in diesem Material können so Licht »einsperren«: Licht passender Wellenlänge wird an den Flächen des zylindrischen Loches reflektiert und bildet stehende Wellen aus. Als einzelne Elemente treten sie quasi resonant mit einfallendem Licht in Wechselwirkung. Eine solche nicht regelmäßige oder periodische Struktur zeigen die elektronenmikroskopischen Aufnahmen auf der rechten Seite.
Über die Wechselwirkung von Licht und Material
In der Physik werden solche Elemente Mie Hohlraum-Resonanzen (englisch »Mie void resonances«) genannt. Das beobachtete Verhalten ist ähnlich zu den sogenannten Flüstergalleriemoden, die man beispielsweise für Schall aus der Kuppel der St Paul’s Cathedral in London kennt und die zu stehenden Schallwellen führen.
Die Abbildungen zeigt in der linken Hälfte elektronenmikroskopischen Abbildungen von Mie Hohlraumresonatoren. Die Resonatoren sind kegelförmige Löcher in der Siliziumoberfläche. Dies erkennt man besonders gut in der untersten Abbildung, hier sind die Löcher seitlich aufgeschnitten und unter einem Winkel betrachtet. Daneben sieht man die berechnete Verteilung des elektrischen Feldes in den Hohlraumresonatoren. Diese Komponente des Lichtfeldes zeigt damit deutlich die resonante Überhöhung und Konzentration des Lichtes in den Löchern – man spricht von den Moden der Struktur.
Licht welcher Wellenlänge und damit Farbe von den Mie Hohlraum-Resonanzen resonant eingesperrt wird, hängt von den geometrischen Parametern ab, also dem Durchmesser und der Tiefe des Loches. Licht, welches resonant zu einer Mode der Struktur ist, wird resonant zurückgeworfen – es entsteht eine leuchtende und intensive Farbe.
Mie Hohlraum-Resonanzen eignen sich in besonderer Weise für den nanoskaligen Farbdruck: In dem man Löcher abgestimmter Tiefe und Durchmessers benutzt, lassen sich farbige und brillante Bilder auf extrem kleiner Skala erzeugen. Jedes Loch fungiert dabei als ein Pixel im dargestellten Bild.
Dr. Mario Hentschel reproduzierte vor diesem komplexen Hintergrund Kandinskys Bild so Punkt für Punkt und schuf so den kleinsten Kandinsky der Welt. Er ist unter dem Mikroskop neben dem Originalgemälde in der Sammlung zu sehen.
Kandinskys Werk sowie seine aktuelle Weiterverarbeitung im Bereich der Mikro- und Nanoelektronik sind faszinierende Beispiele für das Zusammenwirken von Kunst und Wissenschaft. In beiden Disziplinen geht es auf unterschiedlichen Wegen seit jeher um das Streben nach Wissen und Erkenntnis. Beide setzen die Beobachtungsgabe des Menschen, seine Fähigkeit zu abstraktem Denken und seine Kreativität ein, jedoch in unterschiedlich ablaufenden Prozessen.
En Detail ging der Physiker Mario Hentschel dabei wie folgt vor.
Rechts sieht man die Fotografie eines Siliziumwafer Stücks mit einer nanoskaligen Kopie des Gemäldes »Improvisation 9« von Wasily Kandinsky im Vergleich mit einem Lineal und einem 1 Eurocent Stück: Das nanoskalige Gemälde kann nur als grünlicher Reflex wahrgenommen werden, in dieser Vergrößerung ist das Bild selbst nicht zu erkennen. Das Bild darunter zeigt ein optisches Mikroskopbild der nanoskaligen »Improvisation 9«: Im Vergleich mit dem Originalgemälde wird die hervorragende Farbwiedergabe und die Details des Gemäldes offensichtlich. Das gezeigte Gemälde hat eine Kantenlänge von 180 Mikrometern bei 200 auf 200 Pixeln, also eine Auflösung von 36.000 dpi (englisch »dots per inch«). 180 Mikrometern entspricht ungefähr dem Durchmesser von drei menschlichen Haaren.
Die elektronenmikroskopische Aufnahme sowie das optische Mikroskop-Bild zeigen den nanoskaligen Farbdruck eines Ausschnittes der »Improvisation 9«, die Kirche auf dem Hügel in der rechten oberen Bildecke.
In der elektronenmikroskopischen Aufnahme erkennt man gut die Struktur des Ausschnitts, so z.b. die Türme und das Dach des Kirchengebäudes. Auch sind die unterschiedlichen Tiefen und Durchmesser der Mie Hohlraum-Resonatoren gut zu erkennen. Im optischen Mikroskop-Bild erkennt man die Farbwirkung der Strukturen. Im direkten Vergleich der beiden Bilder kann man einzelne farbige Pixel mit den geometrischen Abmessungen auf dem Elektronenmikroskop-Bild abgleichen.
M. Hentschel et al., Dielectric Mie voids: Confining light in air, Light: Science and Applications 12, 3 (2023), https://doi.org/10.1038/s41377-022-01015-z
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