Viele Handabdrücke bilden einen Kreis

Archiv Sohm

Das seit 1981 in unserem Museum beheimatete Archiv Sohm ist keine »Kunstsammlung«, sondern eine umfassende Zeitdokumentation aus Korrespondenzen, Fotos, Büchern, Katalogen, Zeitschriften, Filmen, Videos, Aktionsrelikten und Objektkunst, die heute von Forschern in aller Welt geschätzt wird und nach telefonischer Voranmeldung von jedermann genutzt werden kann.

Der in Markgröningen bei Stuttgart ansässige Zahnarzt Hanns Sohm (1921-1999) konservierte durch das Aufheben von authentischen, nirgendwo sonst bewahrten Dokumenten jene heute oftmals als »Neo-Dada« bezeichnete Gegenkultur, die in den 1960er- und 1970er-Jahren ihr weitestes Spektrum erlangte. Zeugnisse intermediärer Phänomene wie Beat-Szene, Happening, Fluxus, Wiener Aktionismus, Konkrete Poesie, die multimediale Produktion Dieter Roths, Zero, Undergroundliteratur und Künstlerbücher sind im Archiv ebenso einzusehen wie die über die Protestbewegungen Situationismus, Gruppe »Spur« und »Subversive Aktion« erfolgte Grenzüberschreitung der Kunst ins politische Handeln der »68er«.

Ansprechpartnerinnen

Dr. Elke Allgaier

Kuratorin Archive
T+49 711 470 40 276
elke.allgaier@staatsgalerie.bwl.de

Ilona Lütken

Verwaltung Archive
T +49 711 470 40 254
ilona.luetken@staatsgalerie.bwl.de

Der Archivbestand

Neben John Cage gehörte der amerikanische Schriftsteller William S. Burroughs zu den großen Kultfiguren seiner Generation. Beide sind als Väter der Intermediakunst anzusehen, indem sie Anfang der 1950er-Jahre Bewegung in die Literatur-, Musik- und Kunstszene brachten und deren enge Gattungsgrenzen ebenso in Zweifel zogen wie das unerreichbare »Meisterwerk«. 1953 erschien unter dem Pseudonym William Lee Burroughs' erster Roman »Junkie«, dessen Bekenntnisse eines Drogensüchtigen wie eine Bombe einschlugen in die nur scheinbar saturierte Gesellschaft der 1950er, der sie eine ganz andere Realität vor Augen hielten.

Im Archiv Sohm befinden sich nicht nur die Schriften Burroughs', sondern auch jene der anderen Beat-Autoren, wie u.a. Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Michael McClure, Brion Gysin, Gregory Corso oder - schon als Angehöriger der zweiten »Beat-Generation« - Charles Bukowski. Es war ein kleines, heruntergekommenes Pariser Hotel, das einem ganzen unkonventionellen Lebensgefühl, einer Weltanschauung den Namen geben sollte: im Beat-Hotel im Quartier Latin erfanden Burroughs und seine Freunde die auch für Musik und Kunst bahnbrechende Methode des »Cut-ups«, als sie mit der Schere respektlos Texte zerschnitten unabhängig von Sinnzusammenhängen.

1962 gründete Wolf Vostell mit der ersten Nummer der Zeitschrift »décoll/age« mit Texten und Partituren von George Maciunas, Addi Köpcke, Nam June Paik, Benjamin Patterson, La Monte Young und anderen ein Kompendium der Intermediakunst, das bis 1969 auf sieben Exemplare anwuchs und - Ironie der Geschichte dieser marktwirtschaftliche Mechanismen attackierenden Antikunstbewegung - heute durch das in der fünften Nummer befindliche Schokoladenmultiple von Joseph Beuys ein rares Sammlerstück ist. Für Hanns Sohm war die Zeitschrift und die Bekanntschaft mit Wolf Vostell seinerzeit die Initialzündung zu seiner Archivierung von ephemerer Zeitkunst zum Zeitpunkt ihres Entstehens, die nahezu jeden ihrer relevanten Protagonisten berücksichtigen sollte.

In seinem 1958 geschriebenen Aufsatz zum »Erbe Jackson Pollocks« hatte der Amerikaner Allan Kaprow als einzig mögliche Weiterführung der Kunst die Ausdehnung des »dripping« in den Raum verkündet. In alltagsnahen, unmystischen und das Publikum miteinbeziehenden Handlungen, denen er die bald inflationär benutzte Bezeichnung »Happening« gab, setzte er diese These in die Tat um. In Deutschland wurde Wolf Vostell zum wichtigsten Veranstalter des Happenings, das er, anders als die meisten amerikanischen Aktionskünstler, als politische Demonstration begriff. Mit dem angeblich zufällig in einer Pariser Zeitung gefundenen Begriff »dé/collage« (=Flugzeugabsturz) bezeichnete er nicht nur seine Plakatabrisse und Illustriertenverwischungen - die den Nouveaux Réalistes und Robert Rauschenbergs »Combine paintings« viel verdanken -, sondern auch Aktionen, die die Zerstörungskomponente zeitgenössischer Vorgänge attackieren (wie z.B. 1964 »in Ulm und um Ulm herum«, wo ein Militärflugplatz mit aufheulenden Düsentriebwerken zum Konzertsaal erklärt wurde).

Als »Zusammentreffen von amerikanischer Stillosigkeit und europäischer Stilverdrossenheit« hat der Künstler Tomas Schmit einmal die in Deutschland eingeleitete Geburt der Fluxusbewegung bezeichnet. Tatsächlich war Fluxus ein Sammelbecken von Avantgardekunst, in dem von Nam June Paik über George Brecht, Addi Köpcke, Emmett Williams, Dick Higgins, Alison Knowles, Yoko Ono, Joe Jones, Ben Vautier, Robert Filliou, Daniel Spoerri, Joseph Beuys oder sogar Per Kirkeby sich nahezu alle Künstler irgendwann einmal tummelten, die »Kunst und Leben« miteinander aussöhnen wollten. Allen Fluxuskünstlern gemeinsam war die Erkenntnis, dass die Zeit der althergebrachten, nach immanenten »Qualitätsmaßstäben« zu messenden Kunst vorbei sei und nun die »Realität« und »Jeder« Zutritt in ihr Reich erhalten sollte. »Fluxus. Internationale Festspiele Neuester Musik« Wiesbaden 1962.

Erstmals als Begriff tauchte »Fluxus« auf der Ankündigung einer Wiesbadener Konzertreihe auf, die von dem aus den USA eingereisten Litauer George Maciunas im September 1962 organisiert wurde. Die Wurzeln von Fluxus in der zufallsbestimmten und Alltagsgeräusche miteinbeziehenden Musik aus dem Cage-Umkreis wird so bereits durch die Bezeichnung der Fluxusaufführungen als »Konzerte« nahe gelegt. Vor allem durch Filliou, Köpcke und Williams kam auch eine dadaistische, konventionelle Sprachgewohnheiten verulkende Facette hinzu. Typisch für Fluxuskonzerte sind kurze Aktionen, die »einfache« Handlungen wie beispielsweise das Zersägen eines Klaviers oder das tröpfchenweise Füllen eines Eimers mit Wasser vorführen und so im Sinne von Zen die Bedeutsamkeit des Alltäglichen bewusst machen wollen.

Später kamen die von Maciunas edierten und von über fünfzig »Fluxuskünstlern« entworfenen Objektkästchen und -koffer hinzu, deren »Sinn« in ihrer massenhaften Verbreitung und ihrem sinnlosen Gebrauch bestehen sollte.

Während Fluxus für die heutige Kunstszene als bahnbrechender Wegbereiter gilt, interessierte sich in den 1960er-Jahren nahezu niemand für eine Kunst außerhalb von Malerei und Plastik. Der Sammler-Archivar Hanns Sohm war einer der ganz wenigen, der ihre Bedeutung erkannte und so findet sich heute im Stuttgarter Archiv die weltweit umfangreichste Fluxusdokumentation.

Im »MANIFEST das lamm« von 1964 bekennt Hermann Nitsch einleitend: »die entwicklung der kunst tendierte dahin, die wirklichkeit als gestaltungsmittel zu benützen«. In seinem Ende der 1950er-Jahre erdachten, mit Musik und Essen verbundenen Fest des »Orgien Mysterien Theaters« wird das reale Lammopfer allerdings mystisch aufgeladen und steht in Verbindung zu Christuskreuzigung und Dionysoskult der Antike, deren existenzielle und ekzessive Momente es verbinden und nacherlebbar machen wollte.

Weniger dem Mythos verpflichtet, führte Otto Mühl in seinen tabubrechenden Aktionen unter Verwendung von Mehl, Eiern, Blut und Exkrementen die »action painting« eines Jackson Pollock mit lebensnahen Materialien weiter.

Bei Günter Brus und Otto Schwarzkogler kommt noch die Verletzung des eigenen Körpers hinzu, indem sie ihn nicht nur bemalen, sondern buchstäblich zum Zerreißen bringen.

Friedensreich Hundertwasser wollte durch »schöpferische Verschimmelung« menschenfeindliche Betonburgen lebenswert machen, Arnulf Rainer selbstauslöschend malen, »um die Malerei zu verlassen«. Der »Wiener Aktionismus«, der als wichtigster Beitrag Österreichs zur zeitgenössischen Kunst gilt, ist einerseits als politische Provokation einer von Katholizismus und faschistischen Nachwehen geprägten Umwelt zu sehen, andererseits - wie letztendlich alle Manifestationen der hier vorgestellten Gegenkultur - als Provokation der internationalen abstrakten Kunst, deren lebensfremde Abgehobenheit angriffslustig konterkariert wurde.

Zu allen oben genannten Künstlern sowie zu der als literarischer Wegbereiter zu sehenden »Wiener Gruppe« (Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner, Hans Carl Artmann, Oswald Wiener) und anderen mit den Aktionisten sympathisierenden Österreichern wie Kurt Kren, Valie Export oder Peter Weibel befinden sich umfangreiche Dokumentationen in der Archiv-Sammlung.

Kein anderer Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die eigene Existenz so ausschließlich zu seinem Thema gemacht wie der am 5. Juni 1998 verstorbene Dieter Roth.

Alle verfügbaren Medien werden eingesetzt und miteinander kombiniert, um der Vergänglichkeit und Fülle des Lebens Ausdruck zu verleihen. Sein Werk wird so zu einem überbordenden Universum aus Büchern, Zeichnungen, Druckgraphiken, Fotos, Videos, Bildern und Objekten, die organische Materialien und Alltagsgegenstände wie selbstverständlich miteinbeziehen.

Dass die eigene Realität sich durch die Ordnungssysteme der hohen Kunst ebenso wenig direkt vermittelt wie durch jene der Sprache, wird zu Roths Hauptthema und verbindet ihn mit anderen alternativen Positionen der 1960er und 1970er-Jahre.

Indem der Künstler eine Gesamtausgabe des Systemphilosophen Hegel zerkleinert und mit realen Ingredienzen eines Wurstrezepts anreichert, macht er auf gleichzeitig witzige und provokative Weise deutlich, dass er sich stattdessen eine Mitteilung vorstellen möchte, die durch den Magen geht.

Hanns Sohm war mit Dieter Roth von 1963 bis 1982 befreundet. Im Archiv befinden sich die Bücher des Künstlers sowie frühe Materialbilder und -objekte, Zeichnungen, Grafiken, Schallplatten u.v.m.

Der Begriff Konkrete Poesie taucht Mitte der 1950er-Jahre in mehreren Ländern gleichzeitig auf und bezeichnet eine Literatur, die sich - ähnlich wie die 1930 zuerst von Theo van Doesburg propagierte Konkrete Kunst - nur noch auf ihre eigenen Mittel beziehen möchte. Worte, Buchstaben, Satzzeichen werden aus dem Zusammenhang der Sprache gelöst und treten dem Betrachter »konkret« gegenüber.

Es handelt sich um eine stille, meditative Kunst, die sich auch als Gegenpol zur sprachlichen Reizüberflutung der täglichen Umwelt versteht. Indem Sprache als Material behandelt wird und in bildhaften »konstellationen« (Eugen Gomringer) auftaucht, wird sie international, denn man kann beispielsweise die »konkrete« Verbildlichung des Wortes »wind« durch auf dem Blatt verwehte Buchstaben auch ohne Kenntnis der Wortbedeutung verstehen.

Tatsächlich ist die Konkrete Poesie eine internationale Bewegung gewesen, mit Zentren in Brasilien (die Noigandres-Gruppe), Canada (bp Nichol, Bill Bissett), USA (Emmett Williams, Robert Lax), den deutschsprachigen Ländern (Heinz Gappmayr, Ernst Jandl, Gerhard Rühm, Franz Mon, die Stuttgarter Gruppe um Max Bense, Helmut Heissenbüttel und Reinhard Döhl), Frankreich (Henri Chopin, Pierre Garnier, Bernard Heidsieck), Italien (Ugo Carrega), England (Bob Cobbing, Dom Sylvester Houédard) usw.

In dieses Netzwerk klinkte sich Hanns Sohm in den 1960er-Jahren ein und sammelte die in geringen Auflagen erschienenen Bücher und Zeitschriften von Hunderten von Poeten. Seit 1964 korrespondierte er auch als einer der Ersten mit dem eremitisch in Schottland inmitten eines Gartens voller Bilder und Texte lebenden Ian Hamilton Finlay, der in den letzten Jahrzehnten Furore in aller Welt gemacht hat. Das Archiv Sohm ist daher der einzige Ort, wo nahezu alle Drucksachen des Schotten vorhanden sind.

Wie die Grafik »Homage to Modern Art« von 1972 mit der emblematisch auf dem Segel eines Schiffes applizierten »Modernen Kunst« andeutet, träumt Finlay von der Utopie einer massenwirksamen Bild-Wortkunst, die nicht ins Museum, sondern in alle Welt reist.