Provenienzforschung zu Grafiken von Ernst Ludwig Kirchner
Im Jahr 2014 erreichte uns ein Restitutionsanspruch der Erben von Curt Glaser, einem Berliner Kunsthistoriker jüdischer Herkunft. Die Anfrage betraf das Pastell »Rote Kokotte« von Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938). Nachdem vorab geklärt wurde, dass dieses Pastell nicht aus der Sammlung Glaser stammen konnte, wurde 2015 ein Projekt zur Erforschung eines Konvoluts von 143 Grafiken von Ernst Ludwig Kirchner durchgeführt.
Das Konvolut war 1948 nach Stuttgart gelangt und befindet sich seit 1957 in unserem Besitz. Alle Grafiken weisen eine gemeinsame Provenienz auf, die von Anfang an problematisch erschien.
In unseren Inventarlisten wurde die Herkunft der 143 Blätter von Ernst Ludwig Kirchner mit »Sammlung Dr. Gervais, Zürich / Lyon« angegeben. Ziel des Forschungsvorhabens war es, den bisher unbekannten Sammler Dr. Gervais zu identifizieren, mögliche jüdische Vorbesitzer der Werke zu recherchieren und weitere Informationen zu ihrer Provenienz zu ermitteln.
Die Kunsthistorikerin Sandra-Kristin Diefenthaler M. A. arbeitete unter der Leitung unserer Provenienzforscherin Dr. Anja Heuß von August 2015 bis Juli 2016 an der Erforschung dieser speziellen Fragestellung innerhalb des Sammlungsbestandes. Aufgrund eines Berichtes von Roman Norbert Ketterer, Stuttgarter Kunsthändler und seit 1954 auch offizieller Nachlassverwalter Ernst Ludwig Kirchners, war man in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass die Werke der Sammlung Gervais möglicherweise aus jüdischen Sammlungen stammten.
Heute schätzt man den Umfang der sogenannten »Sammlung Gervais« auf über 900 Werke Kirchners. Anhand der Markierungen konnten zugehörige Werke in anderen Museen wie der Staatlichen Graphischen Sammlung in München, dem Kupferstichkabinett der Kunsthalle Karlsruhe, dem Ulmer Museum und weiteren Häusern in Deutschland identifiziert werden. Alle Grafiken tragen leicht erkennbare Signaturen wie z.B. KFZ für »Kirchner Farbige Zeichnung«. In zahlreichen Fällen handelt es sich um Probeabzüge, die der Künstler normalerweise nicht verkaufte. Zwei Werke waren nachweislich noch 1933 im Besitz des Künstlers. Die Existenz des Sammlers Dr. Gervais ließ sich hingegen in keiner Weise belegen. Weder in Zürich, Davos noch Lyon war Dr. Gervais nachweisbar. Aufgrund der historischen Umstände halten es unsere Experten daher für wahrscheinlich, dass das Ehepaar Gervais eine Erfindung der Verkäufer war, um Kirchner-Werke trotz Vermögenssperre nach Deutschland verkaufen zu dürfen. Denn 1945 wurden alle deutschen Vermögenswerte in der Schweiz als Feindvermögen deklariert und eingefroren. Auch ist kein anderer Sammler bekannt, der jemals eine derartige Anzahl von Werken von Kirchner besessen hat. Daher kamen die Provenienzforscherinnen zu dem Schluss, dass nur der Künstler selbst bzw. seine Witwe Erna Kirchner (1884-1945) eine solche Anzahl von Werken gehabt haben können.
Auch wenn die genauen Erwerbungsumstände der Sammlung ein Rätsel bleiben, schließen wir aus, dass es sich bei den Blättern um verfolgungsbedingt entzogene Werke handelt, sondern gehen vielmehr davon aus, dass die Sammlung aus dem Nachlass des 1938 verstorbenen Künstlers stammt.
Das Forschungsprojekt wurde vom Land Baden-Württemberg und der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste gefördert.