Liebe, ich habe mich mit Deinem Brief gestern abend...

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Worum es geht

Beschreibung

Transkription: Stuttgart 18 Dez 1914 Liebe, Ich habe mich mit Deinem Brief gestern abend in eine Ecke geflüchtet, dann heute früh im Morgengrauen, dann in der Sonne, immer wieder gelesen. Die Formen Deiner Buchstaben geniesse ich ebenso wie das was sie aus- drücken; ich sehe - ohne die Regeln der Graphologie zu trauen. Übrigens: ich staune ob Deiner immer fliessenderen Ausdrucks- weise. Du musst fleissig gewesen sein. Ich las mit Erstaunen Deine Wohnungsänderung, ge- schah sie unter Eskorte? Die Correspondenz mit dem deutschen Soldaten ist Dir demnach gestattet! Wir mussten sehr verschlossen sein - wenn unsre Briefe ,,offen" sein müssten! I. Unterbrechung (ich weiß daß deren mehrere kommen) in unsrem Saal muß der Linoleumbaden gewachst werden! - Dabei soll man schreiben - die andern werden sein: Arztbesuch, - August, der deutsche Feldwebel - (ein Typus schrecklichster Art, der aber scheints nötig ist im Haushalt der deutschen Armee) - ich schreibe an meinem Nachttischchen, den der grosse Tisch in der Mitte ist von den anderen belegt - sie spielen Dapp u Schafskopf - ein anderer Mundharmonika zum Ver- zweifeln. Ich bin aus meinem blauen Zimmer wieder verlegt worden. Der Lazarettgarten ist wol schön- es oft auch glücklicherweise ein verschwiegener Weg deren - ja - Liebe! - Die Unabhängigkeit - die Einsamkeit - wie sehr wünsche ich mir diese. Ich träumte in Berlin; wo ich mit Karl zusammen wohnte, phantastisch von Einsamkeit, und ich war ganz ich - wo ich ganz allein war. Ich träumte von einer einsamen Klaus. - ein Betpult mit meinen liebsten Büchern in Kerzenschein. Der Kerzenschein war wesentlich - es war ein fixes Bild- das noch heute klar vor mir steht. Aljoschka! - Warum ich den Raskol- nikow wieder lese. Ich las eine Reise- beschreibung aus dem Krankenhaus. - darin wird der russische Dichter gedacht - kritisch - ich bekam solche Lust Dostojewsky zu lesen u mein Bruder brachte mir Raskolikow. Dann schriebst Du mir daß Du Karamasoff läsest. Raskolikow hatte ich s. Zt. unter besten Umständen gelesen - im Attelier hier - bei halb zu gezogenen Vorhängen lag ich 2 Tage lang ge- streckt auf der Chaiselongue u las u las. Damals war ich überempfindlich - konnte keinen Menschen sehen. Damals war ich im Fieber - diesmal ganz kalt - eben durch die Umstände. Keiner von den ,,Kameraden" weiß, daß ich einen Russen lese. Durch eine andre Lek- türe kam ich in den Gesuch eines Anarchisten! Überhaupt: meine ,,Kameraden" werden nicht klug aus mir. Aber das schrieb ich Dir schon. Sieh! Das Vaterland Staat ist in Gefahr - u es melden sich Millionen Geister freiwillig, es zu beschützen - dafür zu sterben. Das Vaterland Geist ist in Gefahr u Millionen (vielleicht gerade diese Freiwilligen Freigebigen) sind da es zu ver- spotten: kreuziget ihn! Nun wieder diese grausame Mundharmonika - ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Noch in Kürze: ich muss wol noch hier bleiben über Weihnachten, im Lazarett. Mir graust vor den Weihnachts Ferien - den Liebes- gaben! Bei diesem meinem seelischen Zustand darf der Krieg nicht mehr lange dauern! Ich habe keine ruhige Stunde - un ist einer so frech u sieht mir über die Schulter! Geduld - Liebe! Ja? Ich schreibe bald wieder Herzlichst Oskar

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