Worum es geht

Beschreibung

Das kleine Werk ist eines der wenigen Ölgemälde, die Géricault während seines Italienaufenthaltes 1816/17 realisiert. Da seine Bewerbung um den Rompreis der Akademie der Schönen Künste im März 1816 scheitert, reist der Künstler im selben Jahr auf eigene Kosten nach Italien. Im November erreicht er Rom, wo ihn vor allem die Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle tief beeindruckten. Der Einfluss Michelangelos prägt auch die Figurenaufassung in »Die arme Familie«: Die monumentale Sitzfigur der Spinnerin verrät das Vorbild der Prophetengestalten, die Sitzhaltung des Knaben in der Bildmitte jenes der Jünglingsakte der Decke der Sixtina. Ihre strenge Dreieckskomposition trägt zur Herauslösung der scheinbar schlichten Genreszene aus der Sphäre des Alltäglichen bei. Ein von links einfallender, konzentrierter Lichtstrahl motiviert einen starken Kontrast beleuchteter und verschatteter Partien, der gemeinsam mit dem komplementären Farbklang von Rot, Grün und Türkisblau eine Spannung erzeugt, die mit der Statik der Gruppendarstellung kontrastiert. Die Spinnerin, der die Verschattung der Gesichtspartie eine ernste und geheimnisvolle Aura verleiht, deutet mit der linken Hand, die auch den Faden führt, auf eine weiß blühende Blume am rechten Bildrand. Dorthin wendet auch das junge Mädchen den Blick, das an ihrem Knie lehnt. Die griechichsch-römische Mythologie kennt die Spinnerin in Gestalt der Klotho, einer der drei Parzen, die den Lebensfaden des Menschen spinnen, zumessen und abschneiden. Eine Federskizze Géricaults aus derselben Zeit (New York, Privatsammlung) zeigt unter anderen Motiven die drei Schicksalsschwestern, von denen Klotho annähernd das gleiche Kostüm trägt wie die Spinnerin des Stuttgarter Bildes. Dieses lässt sich als Allegorie auf das menschliche Leben deuten, dessen Zeit bemessen und dessen Schönheit vergänglich ist wie jene der Blume und des jungen Mädchens. Der Sinnbildcharakter erläutert die kompositorischen und koloristischen Störfaktoren, durch die der Maler die Wahrnehmung der Darstellung als sentimentale Familienidylle verhindert. Die Sinnbildfunktion der Spinnerin teilt sich auch durch ihr blockhaft-stabiles Sitzen mit, das im Gegensatz zur labilen Position der sie umgebenden Figuren steht. Dieses Werk ist eine wichtige Etappe auf Géricaults Weg zu seiner tragischen Allegorie des menschlichen Lebens, dem »Floß der Medusa« von 1818/19 (Paris, Louvre), in der sich klassische Kompositionsmuster und emotionale Direktheit zu einer Aussageeinheit verbinden. Das Werk gelangte aus dem Nachlass des Künstlers 1824 in die Sammlung des Duc d’Orléans, des späteren Königs Louis-Philippe. Dessen Galerie wurde in einer Reihe von Bänden mit Lithographien publiziert, in denen das Stuttgarter Bild den Titel »Une Fileuse« (Eine Spinnerin) trägt. Schon in alten Inventaren wird erwähnt, dass die Oberfläche des Bildes feine Risse aufweist, durch die der rotbraune Malgrund und die Unterzeichnung in Feder sichtbar werden. Vielleicht entstand diese Beschädigung noch zu Lebzeiten des Künstlers: Bei seiner Rückkunft aus Rom im Herbst 1817 klebten einige seiner Ölmalereien auf Papier, die er für den Transport gestapelt hatte, so fest zusammen, dass man sie nur mit Mühe voneinander lösen konnte.

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