Neues Grotesken-Büchlein, 1

Der Kupferstich ist ein Blatt aus dem Groteskenbüchlein »Newes Gradesca Büchlein« (1607) des Augsburger Zeichners und Kupferstechers Lucas Kilian. Der Begriff »Groteske« kommt ursprünglich vom italienischen Wort „grottesche", was Grotte, unterirdischer Raum bedeutet. In Rom wurden 1480-1508 die verschütteten Räume des Domus Aurea des Kaiser Nero wieder entdeckt, ebenso wie die Therme des Kaisers Hadrian. Die dort vorgefundenen Wandmalereien wurden von Künstlern in Skizzen festgehalten, boten Anregungen für aktuelle Dekorationen und fanden schnell Verbreitung durch die Druckgrafik (vgl. Inv. Nr. B 247,49). Diese fantasievolle Dekorationsform wurde aufgrund ihres Auffindungsortes bald »Groteske« genannt. Es handelt dabei sich um flächenfüllende Ornamente, die sich aus Pflanzenranken, Fruchtschnüren, Bändern, phantastischen Menschen- und Tierfiguren, Masken, Putti, Fabel- und Mischwesen zusammensetzen. Bei solchen ornamentalen Vorlageblättern gibt es meist ein figürliches Hauptthema in der Mitte des Stichs, in diesem Fall ein volkstümliches Motiv. Der Eselsritt gilt seit dem Mittelalter als Schandmotiv und gab hier den Vorwand für eine derbe Darstellung. Dies verdeutlicht, dass die Groteske der Neuzeit die unterschiedlichsten Einflüsse jenseits antiker Überlieferung aufnehmen konnte. Typisches Merkmal der Groteske ist die Doppeldeutigkeit der Motive, die vielfältige Assoziationen auslösen kann. Ein Beispiel sind die ausgelassenen Musikanten, von denen zwei ohne Saiten spielen. Beliebt waren in diesem Sinne auch Konsolen in Form von Brüsten oder dicken Früchten. Die Figuren, Gegenstände, Ranken und Formen werden zu einem architekturähnlichen Gerüst mit scheinbarer Symmetrie zusammensetzt. Die Illusion eines tragenden Gerüsts wird bei näherem Betrachten ad absurdum geführt, da Kilian statische Unmöglichkeiten einbaut. Das Faszinierende an der Groteske ist das Zusammenbringen des eigentlich Unvereinbaren, wofür das Mischwesen als Paradebeispiel gelten kann. Dadurch entsteht die eigentümliche Komponente, die das Betrachten zu einem Sehvergnügen macht, welches von abstoßend über seltsam bis hin zu witzig und originell reicht. [V.Schultz/HMK]