Worum es geht

Beschreibung

Die Geschichte entstammt dem 1. Buch Mose (21, 14-20): Da Abrahams Frau Sara lange Zeit kinderlos blieb, zeugte er mit ihrer ägyptischen Magd Hagar den Ismael. Als Sara schließlich doch noch schwanger und eifersüchtig auf Hagar und ihren Sohn wurde, musste Abraham die beiden verstoßen. Lange irrten sie durch die Wüste und ließen sich erschöpft nieder, als ihr Wasservorrat zu Ende war. Da erschien ein Engel, um sie zu trösten. Er zeigte ihnen einen Brunnen und verhieß ihnen eine glückliche Zukunft. Giovanni Battista Tiepolo hat nach einer längeren Experimentierphase in dieser Zeichnung zu seinem eigentlichen Stil gefunden. Die Konstellation der Figuren ist im Entwurf weitgehend festgelegt, einzig die Pentimenti (Korrektur- oder Reuezüge) an den Unterschenkeln des Ismael zeugen von einer ursprünglich anders geplanten Variante des Kindes mit ausgestreckten Beinen. Zarte, stets aneinandergesetzte und selten ganz durchlaufende Konturlinien bestimmen die Figuren. Eine lichte transparente Lavierung in warmen Brauntönen, zuweilen in extremen Schattenbereichen auch etwas dunkler, liegt wie ein durchsichtiger Schleier über den Gestalten, geht jedoch fast nie über die vom Kontur vorgegebene Grenze hinaus. Die Komposition entwickelt sich in einer steilen Diagonale, unterstützt durch den langen kahlen Baumstamm. Hagar hält den ohnmächtigen Sohn einer Pietà gleich auf ihrem Schoß, der Wasserkrug neben ihr versinnbildlicht die ausweglose Situation. Die überirdische Erscheinung des Engels mit mächtigen Schwingen, dessen Körperlichkeit sich aus einer duftigen Wolke entwickelt, bringt den Trost, verdeutlicht durch den Blickkontakt zwischen ihm und Hagar. Die Szene wird somit zu einer Art typologischer Vorausschau auf die Verkündigung an Maria im Neuen Testament. Tiepolo besaß stets größtes Einfühlungsvermögen in das Seelenleben seiner Protagonisten. Trotz des ausgeklügelten Aufbaus ist die Darstellung keine reine Inszenierung, sondern wird erfüllt - und hierzu trägt vor allem die sensible Lavierung bei - durch den Einblick in die innere Befindlichkeit: Sie steigert sich vom apathischen Kind über den hoffenden Aufwärtsblick Hagars zur Verheißung durch den Engel. Die Zeichnung steht offenbar in Verbindung zu einem um 1732 entstandenen Gemälde Tiepolos, das sich in der Scuola di San Rocco in Venedig befindet (Massimo Gemin und Filippo Pedrocco: Giambattista Tiepolo. I dipinti. Opera completa, Venedig 1993, Nr. 121). Die Anordnung der Figuren ist dort allerdings seitenverkehrt, auch sind diese näher gesehen, was eine eindringlichere Präsenz der Szene zur Folge hat. Die größte Übereinstimmung ist bei der Handhaltung des Engels festzustellen. Affinitäten lassen sich überdies zum wenige Jahre zuvor entstandenen Deckenbild »Hagar und Ismael in der Wüste« von 1727 im ehemaligen Patriarchenpalast, heute Museo Diocesano, in Udine bemerken, obgleich Mutter und Kind dort voneinander getrennt lagern; der Engel kommt jedoch ebenfalls von oben aus den Wolken, auch findet sich das Motiv des abgestorbenen Baumes wieder (ebd., Nr. 82; zu den verschiedenen Datierungen der Stuttgarter Zeichnung vgl. ausführlich Stuttgart 1996, Nr. 5).

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